Marion Biet: Ciné-Ethnographie und audiovisuelle Forschung – Teil II

Die Filmpraxis im Seminar als Erfahrung eines situierten Wissens
Antwort auf Julia Bee's Beitrag Gedanken zu Anderen Wissenspraktiken in der Lehre

Marion Biet

Die Idee für meinen Film entstand aus dem Zusammenprallen dreier verschiedener Elemente: dem im Seminar gesichteten Film Chronique d’un été von Jean Rouch (FR 1961) – mit seiner Frage an die Arbeiter_Innen nach dem Glück –, dem Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon und meiner eigenen Erfahrung als Zeitarbeitskraft in einer französischen Verpackungsfabrik. Ich wollte durch meine eigene Erfahrung einen subjektiven Beitrag zur Diskussion über Klassen(kampf) und zur heutigen Neudefinition des Arbeiterbegriffs leisten. Am Anfang schien die Vorbereitung des Projekts einer Hausarbeit nicht unähnlich zu sein: Ich habe Filmbeispiele, die mich durch ihre Ästhetik oder ihre Herangehensweise inspirieren, wie z. B. von Eisenstein, Vertov, Farocki, Marker und Rouch, und theoretische Konzepte, mit denen ich arbeiten wollte, gesammelt: „Ethnografie“, „Schoolscape“ (MacDougall) und Haptizität. Ich habe auch die anderen Studierende gefragt, wie sie sich ein/e ArbeiterIn vorstellen, und welche Frage sie ihm/ihr stellen würden.
Das Filmprojekt hat sich dann aber schnell von einer üblichen Hausarbeit unterschieden. Es hat zuerst eine starke Empowerment-Funktion gehabt, insofern ich mich (als junge Frau) noch nie getraut hatte, einen Film zu drehen – und noch dazu im Kontext einer Fabrik, die gesellschaftlich oft als eine männliche Welt wahrgenommen und präsentiert wird. Außerdem hatte ich mein Projekt sofort mit der Geschichte sozialer und politischer Bewegungen assoziiert, was ich als eine Einladung, bzw. eine Aufforderung zu Kreativität und Subjektivität verstand. Die Subjektivität lag für mich darin, dass ich regelmäßig in dieser Fabrik im nördlichen Zentralfrankreich gearbeitet hatte und die Arbeiter_Innen gut kannte. Das Thema war also Teil meiner eigenen Geschichte. Gleichzeitig empfand ich diese Subjektivität als eine große Verantwortung den Arbeiter_Innen gegenüber. Mir ist besonders stark aufgefallen, dass diese Verantwortung sowohl rechtlich (Bildrecht) als auch ethisch und ästhetisch ist. Ich habe Formulare für Bildrechte vorbereitet – die ich aber manchmal in der Hast vergessen habe –, und mir auch viele Gedanken über meine eigene Position gemacht, um herauszufinden, wie ich mit „Film“ umgehen und die Fabrik und ihre Arbeiter_Innen darstellen wollte: Sollte ich selbst filmen, oder ihnen eine Kamera geben, um sich selbst darstellen zu können? Aus verschiedenen logistischen Gründen (Ablauf des Fabrikalltags, Mangel an Kameras…) musste ich schnell auf diese Form der expliziten Partizipation verzichten. Es war der erste Schritt zu verstehen, wie groß der Einfluss logistischer und praktischer Details auf einen Film eigentlich ist.
In meinem Fall hat auch der Mangel an Erfahrung eine große Rolle gespielt und oft zu unerwarteten Situationen geführt, die sich aber doch als sehr positiv erwiesen haben. Ich hatte beispielsweise ursprünglich vor, mich auf die Besonderheiten der Fabrik zu konzentrieren: den Anteil an (weiblichen) Arbeiter_Innen mit Behinderung und das Teilhabeprinzip. Doch wurde mir vor Ort sofort gesagt, ich dürfte keinen Film über Behinderung machen und die Produktnamen nicht zeigen. Die Arbeiter_Innen waren auch nicht alle begeistert, gefilmt zu werden, und viele baten mich darum, ihre Gesichter nicht aufzunehmen, was ich respektiert habe. Diese schwierigen Beschränkungen haben aber dazu geführt, die Ästhetik des Films zu affirmieren: Statt mit totalen Einstellungen, die einen Überblick über die gesamte Fabrik gegeben hätten, habe ich eher mit Großaufnahmen von Händen gearbeitet. Die Arbeiter_Innen wurden somit durch andere Parameter definiert: die Dauer der Einstellungen, die Wiederholung und Sequenzierung der Arbeitsprozesse, und durch die Aufmerksamkeit auf die Fertigkeit ihrer Geste. Besonders auffällig war auch die Zeitlichkeit beim Drehen, insofern als einige Gesten nur einmal am Tag erfolgen und das Licht sich ständig ändert. Als Filmmacherin musste ich mich wirklich selbst dem Rhythmus der Fabrik anpassen, um diese Gesten aufnehmen zu können. Während der Dreharbeit habe ich auch körperlich erfahren, was die Dauer einer Einstellung für eine Filmemacherin bedeutet. Ich wollte nämlich die Zeitlichkeit der Fließbandarbeit in langen Einstellungen wiedergeben, doch fiel es mir ziemlich schwer die Kamera einfach an zu lassen und zu warten, bis genug Zeit für die Einstellung vergangen war, vor allem weil man hinter einer Kamera für die Menschen rundherum gar nicht unsichtbar ist: hinter der Kamera ist man eigentlich im Zentrum der Interaktion. Mir wurde sehr oft gewunken oder ich wurde beim Filmen angesprochen, weil die Arbeiter_Innen der Fabrik nicht gewöhnt waren, gefilmt zu werden. Aus Neugier, vor Aufregung und aus mangelndem Bewusstsein für die Situation wollten sie mich immer in der Kommunikation einbeziehen, was mich hinter der Kamera sehr verunsicherte: Ich wollte nicht unhöflich sein, indem ich die Fragen ignorieren würde, aber ich verweigerte mich zuerst, Teil des Geschehens zu werden, um eine objektive Beobachterin zu bleiben. Nach und nach habe ich jedoch verstanden, dass diese Interaktionen Teil der filmischen Erfahrung ist, deshalb mussten sie auch im Film erscheinen. Dadurch habe ich ein Verständnis für die Kopräsenz aller Akteure eines Dokumentarfilms entwickelt und es in den Film einfließen lassen. Man hört also regelmäßig meine Stimme im Off, wenn ich mit den Arbeiter_Innen spreche und ich habe Szenen gelassen, in denen diese Interaktion deutlich zu sehen ist. Der Film gewinnt somit an Subjektivität und Menschlichkeit trotz der Beschränkungen.

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© Marion Biet

Die Montage war eine sehr spannende Etappe des Projektes, da ich in drei Tagen über sieben Stunden Filmmaterial (dazu Szenen, die wegen technischer Mängel unverwendbar waren,) gesammelt hatte. Sie spielte eine sehr wichtige Rolle in der Konzeptualisierung des Films und hat mir erlaubt, die somatischen Eindrücke der Arbeit in der Fabrik wiederzugeben sowie das Konzept der Fließbandarbeit zu problematisieren. Die Montage fungiert als räumliche und zeitliche Fragmentierung der Arbeitsprozesse (Abfolge von verschieden langen Großaufnahmen der Hände über dem Fließband) und gleichzeitig als Assemblage der verschiedenen Gesten, Rhythmen, Menschen innerhalb der Fabrik als Ganze. Deshalb habe ich auch den ganzen Film wie einen Tag montiert, da ich diese Ganzheit betonen wollte. Die Überblendungen spiegeln hingegen die Überflutung an physischen Reizen wieder, die ich aus eigener Erfahrung kannte: das Schwindelgefühl wegen der stundenlangen Wiederholung derselben Geste, die visuelle Anstrengung, die es bedeutet sich auf das aufdringliche und regelmäßige Erscheinen der Produkte auf dem Fließband zu konzentrieren, das Ineinanderübergehen aller Geräusche und die Beziehung zwischen der eigenen Position am Fließband und der Koordination der Arbeit einem größeren Bereich. Der Film ermöglichte mir also eine Reflexion über die Materialität des Filmischen und dessen Beziehung zur Haptizität und der physischen Erfahrungen.
Nach der Montage des Films war die Arbeit aber noch nicht abgeschlossen, da der Film auf Französisch war, obwohl er für ein deutsches Publikum (zunächst Julia Bee, die Seminarleiterin, und die Seminarteilnehmer_Innen gedacht war. Der Film musste also noch untertitelt werden. Diese den Filmwissenschaftler_Innen oft unbekannte Arbeitsphase führte aber zu einer der wichtigsten ästhetischen und theoretischen Entscheidungen, die ich für den Film getroffen habe. Nicht nur aus logistischen und zeitlichen Gründen habe ich mich nämlich dafür entschieden, nicht alle Gespräche im Film zu untertiteln. Ich habe bewusst nur die Interviewszenen untertitelt, weil ich sie als kleine Unterbrechungen im Fabrikalltag betrachte. Die Gespräche am Fließband, im Ruhebereich oder während des Mittagsessens sind hingegen Teil des akustischen Umfeldes und des Alltags der Arbeiter_Innen. Die Aufmerksamkeit soll sich also nicht so sehr auf ihren Sinn, sondern viel mehr auf ihre sensorische Eigenschaft lenken: Diese Gespräche sind ein Geräusch von vielen unterschiedlichen Geräuschen in der Fabrik. So habe ich mir MacDougalls Begriff der „schoolscape“ angeeignet, versucht die Fabrik als ein Milieu zu verstehen und somit als solches aufzunehmen und zu montieren.

L'usine c'est particulier

© Marion Biet

Mit dem fertigten Film L’usine, c’est particulier quand même habe ich schließlich auch einen Einblick in die Filmindustrie bekommen, da ich ihn bei mehreren Festivals eingereicht habe. Bisher wurde der Film nirgends angenommen. Es war aber interessant zu sehen, dass ein Film noch ein sehr langes Leben nach der Produktion haben kann, was auch vor ethische und ökonomische Probleme stellt: Was geschieht mit den Filmen von Amateur_innen? Gibt es genug Kategorien und Räume für solche Filme z. B. in Festivals? In welchem Rahmen/Kontext können sie gezeigt werden? Wie vertritt man solche Filme: als Filmmacherin und/oder als Wissenschaftlerin?
Das Wissen, das diese Erfahrung gebracht hat, ist also vielfältig. Es ist zuerst ein theoretisches Wissen, da man sich konkret mit Theorien und Konzepten auseinandersetzt. Dieses theoretische Wissen wird aber anders als in einer klassischen akademischen Arbeit bearbeitet. Die Schwierigkeit bei der Montage von meinem Film kam teilweise davon, dass die Gedanken mit Bildern ganz anders als mit Wörtern ausgedrückt werden. Für mich ist die Praxis ein bisschen wie in einer anderen Sprache zu denken. Der neue Wortschatz und die neue Grammatik fordern eine Gymnastik des Denkens, die sich oft als sehr kreativ erweisen - in dieser Hinsicht liefert der letzte Film Godards Le livre d’image (FR/SW 2018) einen sehr interessanten Beitrag zur Entstehung einer rein bildlichen Sprache. Dazu ist das technische Wissen nicht zu unterschätzen, da die Technik immer an unseren Gedanken mitarbeitet. In dem Fall von meinem Film ist mir außerdem aufgefallen, dass es einfacher war, Bilder zu produzieren, als einen Diskurs damit zu formulieren, mit dem ich mich zufrieden stellen konnte. Ich habe schnell viel Material gesammelt aber konnte zuerst nichts Konkretes damit formulieren. Es hat mich an die Masse an Bildern erinnert, die uns im Alltag umgeben. Die Schwierigkeit der Bildersprache liegt aber auch daran, dass es mit der Ethik eng verbunden ist. Mit der Praxis lernt man, sich zu situieren und für die Bildproduktion (und die Menschen, die man filmt,) verantwortlich zu sein. In diesem Sinn entsteht durch die Filmpraxis eine Form des Wissens, das Donna Haraway mit dem Konzept eines „situierten Wissens“ (Donna Haraway: “Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective”. Feminist Studies. Vol. 14, No. 3 (Herbst, 1988), pp. 575-599) beschrieben hat.

© Marion Biet

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